Dass Nanfu Wang Dylan trifft, ist reiner Zufall. Seit ihrem 20. Lebensjahr macht sie sich jedes Jahr dasselbe Geburtstagsgeschenk - eine Last-Minute-Reise an einen Ort, den sie noch nie zuvor besucht hat. In ihrem Heimatland China gehörte das Reisen zu ihren wenigen, hochgeschätzten Freiheiten. Auch in ihrem ersten Jahr als Filmstudentin in New York setzt sie ihre Tradition fort und es verschlägt sie dabei nach Florida. Ohne irgendwelche Pläne oder eine Bleibe kommt sie dort an und filmt alles, was ihr vor die Linse kommt. Dann taucht Dylan auf, in einer Herberge in den Everglades. Er ist 22 Jahre alt, jung und furchtlos. Und er hat etwas an sich, das Nanfu sofort in seinen Bann zieht. Er ist ein Reisender wie sie, aber das Reisen ist sein Leben. Er wehrt sich gegen Verantwortung, hat sich gegen Heimat und Familie entschieden. Er lebt auf der Straße, freiwillig und in Freiheit, von der Hand in den Mund, und wartet, was das Leben so bringt.

Gelockt von Dylans Versprechen ihr zu zeigen, was es wirklich bedeutet frei zu sein, folgt Nanfu ihm mit ihrer Kamera auf seine Reise. Sie leben zusammen auf der Straße, essen aus Mülltonnen, waschen ihre Kleidung in öffentlichen Toiletten und sind über Nacht Gäste in Häusern von hilfsbereiten Menschen. Dylan ist kommunikativ und scheint eine Anziehungskraft zu besitzen, welche die Regisseurin ebenso in den Bann schlägt, wie zahlreiche Fremde auf seinem Weg. Doch an einem Punkt der Reise trennen sich die Wege der beiden abrupt.

Zwei Jahre später reist Nanfu Wang für Dreharbeiten nach Utah und nimmt Kontakt zu Dylans Familie auf. So trifft sie auch Dylan wieder, der für die Hochzeit seines Vaters nach langer Zeit nach Hause zurückgekehrt ist. Je tiefer Nanfu erneut in Dylans Welt eintaucht, desto mehr entzieht sich seine Geschichte einer einfachen Kategorisierung und einfachen Antworten. Nun, Jahre nach ihrer ersten Begegnung und im Kreis seiner Familie, offenbart sich ein neues Bild Dylans und seiner Lebensumstände – und der vermeintlichen Freiwilligkeit seines Freiseins. Denn Dylan ist ein Produkt einer Gesellschaft, in dessen System und Schubladen er nicht passt. 

Nanfu Wangs Dokumentarfilm „I Am Another You“, dessen Filmarbeiten sich über mehrere Jahre erstreckten, erzählt anhand der charismatischen Figur des freiwilligen Obdachlosen Dylan von dem schillernden Versprechen der wahren Freiheit – und ihrer Grenzen. Ein sensibles Porträt, das ein ungewöhnlich menschliches Licht auf die Themen von psychischer Erkrankung und Obdachlosigkeit wirft.